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Miss Allie "Die Kiste"

Autorenbild: Miss AllieMiss Allie

Der Soundtrack einer wahren tragischen Geschichte über Liebe, Verlust und Abschied. Miss Allie in Australien.

 

Ich war 22 Jahre alt, als ich mit stolz geschwellter Brust aus der Uni stolperte. Meine Hände umklammerten mein Bachelorzeugnis, ein breites Grinsen zierte mein Gesicht, und meine Freundinnen lachten laut, als sie mich rufen hörten: „JETZT FLIEG ICH NACH AUSTRALIEN, IHR KLEINEN SCHWEINCHEN!“ Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste: Diese Reise würde mein ganzes Leben für immer verändern.


„Selbstfindung“

– das war das Wort der Stunde. Ich wollte mich innerhalb eines Work-&-Holiday-Jahres selbst finden. Doch wie findet man sich selbst? Also machte ich erst einmal das, was alle machten: die Gold Coast rauf und runter reisen, Fraser Island besuchen, Sydney anschauen … so lange, bis das Geld alle war. Und dann stand ich da – mittellos, am anderen Ende der Welt. Glücklicherweise hatte ich eine Gitarre und konnte immerhin schon fünf Lieder spielen. Ich hielt mich mit Straßenmusik über Wasser, bis mich ein kleiner Pub in Tasmanien aufnahm. Ich bekam ein Zimmer über der Bar und sollte an den Wochenenden Konzerte spielen. Eine kleine deutsche Frau mit Gitarre – das sprach sich schnell herum in dem kleinen Deloraine. Und so kamen sie in Scharen. Meine Beine schlotterten bei meinem allerersten Konzert überhaupt (!). Es war eine harte Schule: Die bis zum Rand mit Bier befüllten tasmanischen Männer grölten

durcheinander, klauten mir das Mikrofon, umarmten mich und säuselten mir Liedwünsche ins Ohr, die ich nicht kannte. Zumindest fiel aufgrund des Alkoholpegels letztlich nicht auf, dass ich die ganze Zeit dieselben fünf Lieder in Dauerschleife spielte.


Und eine Liebesgeschichte...

Mitten in diesem Gewusel waren da diese Augen. Große braune Augen, die mich ansahen, als könnten sie zum ersten Mal überhaupt etwas sehen. Und dazu ein Lächeln, das so schüchtern war wie das eines kleinen Jungen. Das war er. Das war meine erste große Liebe, die mich da ansah. Er kam zu jedem Konzert. Und schon bald gingen wir auf ein Date. Aus einem Date wurden viele, aus Verliebtheit wurde Liebe, und aus einem Jahr Australien wurden drei. Ich war also eigentlich auf der Suche nach mir selbst und fand dabei ihn. Den Mann, dem ich das erste Mal in meinem Leben „I love you“ sagte, der mich auf alle meine Gigs in Tasmanien begleitete, der mir am anderen Ende der Welt ein Zuhause gab und der die Vorlage lieferte zu meinem ersten deutschen Song „Schweinesteak Medium“.


Doch meine norddeutsche Seele sehnte sich zu sehr nach ihrem Zuhause und danach, Musikerin zu werden. Als wir uns das letzte Mal am Flughafen „Goodbye, my love“ sagten, rollten verzweifelt dicke Tränen. Es brach uns beiden das Herz. Ich ging für die Musik und er blieb für seine Familie. Dieser Liebeskummer führte zu meinem ersten Album "Mein Herz und die Toilette".


Das Ganze ist nun mehr als zehn Jahre her. Wer bin ich heute? Eine preisgekrönte Singer-Songwriterin, die Tourneen durch Deutschland, Österreich und die Schweiz fährt. Auf jedem Konzert erzähle ich die Australien-Geschichte und singe „Schweinesteak Medium“. Auf jedem Konzert erinnere ich mich an meine erste große Liebe und feiere mit meinem Publikum diese so prägende Zeit. Und mitten auf der Tour kam plötzlich die Nachricht aus Australien. Es gab einen Unfall. Bei einem Ausflug mit seinen Freunden ertrank mein Australier in einem Fluss. Er hinterließ zwei kleine Kinder und eine Ehefrau. Und mein Herz brach ein zweites Mal.



Wenn alte Menschen von uns gehen, ist das sehr traurig. Doch man hat den Trost, dass sie ihr Leben gelebt haben, und die Gewissheit, dass es okay ist, dass sie nun gehen. Wenn ein junger Mensch stirbt, ist das etwas anderes. Es ist unfassbar. Es ist unbegreiflich. Es ist unfair. Und es tut weh. Sehr. Ich dachte immer, dass das ganze Tamtam und Schischi bei Beerdigungen einfach nur teuer und unnötig ist. Doch nun verstehe ich, dass Abschiedsrituale essenziell wichtig sind für den Verarbeitungsprozess. Ich verstehe, dass ein Grab eine wichtige Stätte ist, um Gefühlen einen Ort zu geben, an dem sie sein können. Doch was, wenn sich das Grab am anderen Ende der Welt befindet?


Dann fliegt man ein letztes Mal um den Globus, um seiner ersten großen Liebe "Lebewohl" zu sagen. Diese Reise war unglaublich schwer aber auch so unglaublich wichtig für mich. Ich konnte endlich alle Worte sagen, die ich sagen und alle Tränen weinen, die ich weinen musste.


Liebe Grüße,

Miss Allie


 


 
 
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